Plädoyer für eine Neubewertung des Schutzes von Embryonen in vitro

Es gibt in Deutschland eine Vielzahl von Embryonen, die im Rahmen einer fortpflanzungsmedizinischen Behandlung entstanden sind, aber nicht mehr verwendet werden, zumeist weil die Familienplanung der betreffenden Paare abgeschlossen ist.

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Diese sogenannten überzähligen Embryonen können bislang nur verworfen werden oder – allerdings ohne genaue rechtliche Vorgaben – an andere Paare mit Kinderwunsch gespendet werden. Eine dritte, in vielen Ländern mögliche Option, solche Embryonen für hochrangige Forschungsziele zur Verfügung zu stellen, besteht derzeit nicht. Denn das Embryonenschutzgesetz, das vor über dreißig Jahren in Kraft getreten ist, verbietet jedwede Forschung mit Embryonen in vitro, also außerhalb des menschlichen Körpers.

Allerdings ist die Zeit nach Auffassung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften* mehr als reif für eine erneute Diskussion über die Zulässigkeit derartiger Forschung. In einer aktuellen Stellungnahme wird auf wichtige Fragen hingewiesen, die wissenschaftlich nur mit Hilfe der Embryonenforschung bearbeitet werden können: Neben Grundfragen der Embryonalentwicklung und der frühen Krankheitsentstehung könne diese Art der Forschung auch bei der Weiterentwicklung der Fortpflanzungsmedizin helfen. Sie könne dazu beitragen, Unfruchtbarkeit besser behandeln zu können, die Überlebensfähigkeit und gesunde Entwicklung von Embryonen beziehungsweise Föten in der Schwangerschaft zu verbessern und Frühgeburten zu verhindern.

Im Ringen um einen angemessenen Umgang mit menschlichen Embryonen außerhalb des menschlichen Körpers treffen nach wie vor sehr unterschiedliche Positionen aufeinander. Aller­dings ist ein zentrales Merkmal liberaler Gesellschaften die Toleranz gegenüber unterschiedlichen ethischen Auffassungen und die Suche nach politischen Kompromissen. Vor diesem Hintergrund sollte Forschung an frühen Embryonen in vitro im Einklang mit internationalen Standards und innerhalb bestimmter Grenzen erlaubt werden.
Die Entscheidungshoheit darüber, ob überzählige Embryonen für die Forschung zur Verfügung gestellt werden, sollte bei dem Paar liegen, von dem sie stammen. Im Vorfeld sollte eine unabhängige Beratung stattfinden, damit die Betroffenen eine informierte Entscheidung treffen können.

Die Erlaubnis zur Forschung sollte ausschließlich für hochrangige Forschungsziele gelten, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung und der Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren dienen. Ebenfalls sollte die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus überzähligen Embryonen zur Verwendung für hochrangige Forschungsziele ermöglicht werden.

Dabei könnte eine Bundesbehörde im Zusammenwirken mit einer Ethikkommission im Einzelfall über die Zulässigkeit des Vorhabens entscheiden – vergleichbar mit der Befugnis des Robert Koch-Instituts und der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung (ZES), wie sie im Stammzellgesetz geregelt ist. Ziel muss es sein, die Hochrangigkeit der Forschungsvorhaben sicherzustellen und ein ­Monitoring der Forschung zu ermöglichen, wie es etwa die britische Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) auf beispielhafte Weise umsetzt. Zugleich würde Transparenz – auch im Interesse eines informierten gesellschaftlichen Diskurses – hergestellt.

Der neue Regelungsrahmen sollte die aktuellen und sich wissenschaftlich bereits abzeichnenden Entwicklungen berücksichtigen, wie etwa die Herstellung embryoähnlicher Strukturen („Embryoide“) oder von Embryonen, die aus in vitro hergestellten Keimzellen erzeugt werden. Gesetzliche Überprüfungs- und Berichtsfristen sollten sicherstellen, dass auf neue Entwicklungen zeitnah reagiert werden kann.

* Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften, Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland, 2021.

Dieser Klartext ist der |transkript-Ausgabe 1/2022 entnommen.

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